Der fürchterliche Terroranschlag und Amoklauf von Oslo ist von einer neuen Qualität. Nicht allein wegen seiner Brutalität und der Quantität seiner Opfer. Sondern weil es sich nicht um einen Selbstmordanschlag handelte, der Amokläufer richtete sich nicht selbst oder wurde durch den Polizeieinsatz getötet. Nein! Der Täter wollte überleben, um seine Botschaft weiter zu verkünden. Anders Behring Breivik verstand seine Tat als „Marketing-Offensive„, wie den Trailer zu einer Kinofilmpremiere à la Hollywood. Was ihn so gefährlich macht, ist sein nahezu perfekter Umgang mit der Presse. Er nutzte die neuen Möglichkeiten des Internets: Facebook-Seite, Youtube-Channel, Twitter-Account. Sein Manifest wurde viral. Wer kann sagen wie oft heruntergeladen und gelesen? Und Breivik lieferte die Pressefotos gleich mit. Er bestimmt weitestgehend, wie er gesehen und dargestellt wird. Pressearbeit vom Feinsten.

Warum aber machen alle mit? Warum schreiben selbst seriöse Journalisten nicht über die Tat, warum legen sie nicht Fakten dar, sondern verbreiten die Propaganda des Täters? Weil es die meisten nicht besser gelernt haben? Weil sie es immer so machen? Wo ist der Unterschied zwischen einem neuen Film von Johnny Depp oder Brad Pitt und dem Anschlag von Oslo? Geschrieben wird, was der Täter oder Produzent liefert. Recherchieren dauert zu lange. Jeder will das Foto als erster veröffentlichen, die Kernaussagen des Manifestes als erstes abdrucken. Aber fragt einer nach den Grenzen?

Ja, der Haftrichter hat weise die Öffentlichkeit von der Anhörung Breiviks ausgeschlossen. Was ich allerdings gestern Abend in den Tagesthemen zu hören bekam hat mich erst sprachlos und dann wütend gemacht. Tom Buhrow leitet dort so ein:

„Anders Behring Breivik wollte offenbar nicht sterben, sondern sich über seine Taten hinaus inszenieren.“

Gut denke ich, das Vorbild des Richters scheint langsam auch die deutschen Redaktionen nachdenklich zu stimmen. Die Medien stehen in der Verantwortung, dem Täter keine Bühne zur Selbstinszenierung zu bieten. Tom Buhrow aber fährt fort:

„Auch wir in den Medien müssen uns deshalb fragen, was für die Berichterstattung unerlässlich ist und was nicht. Einiges ist unvermeidlich, immerhin müssen sich auch Kriminalisten mit seinen Schriften beschäftigen, um den Weg vom Gedankengut zur Tat zu verstehen.“

Ich werde misstrauisch. Ganz richtig, wir müssen uns fragen, was für die Berichterstattung unerlässlich ist. Jeder Journalist kennt die sieben W-Fragen. Außerdem sind sicher Hintergrundberichte sinnvoll, z.B. welche politischen Themen haben die jungen Menschen auf der Insel Utøya besprochen. Wie viele waren dort (teilweise hatte man den Eindruck der Täter habe alle erschossen). Oder man könnte über die Personen berichten, die viele Jugendliche mit Booten aus dem Wasser gerettet haben, zum Beispiel der Deutsche Marcel Gleffe. Meinetwegen, kann man auch nach der Schuld der Polizei fragen. Wobei ich das schon für fragwürdig halte, da es die Schuld des Täters gewollt oder ungewollt abmildert.

Aber weiter mit den Tagesthemen, die ich hier nur beispielhaft zitiere. Was nicht heißen soll, dass andere Presseorgane weniger Propaganda für die „Sache von Breivik“ machen und gemacht haben. Tom Buhrow fragte also nach der Verantwortung der Medien und beantwortete die Frage mit dem Hinweis, dass es wichtig sei, das Manifest zu lesen, um die Tat verstehen zu können. Ich frage mich:

  1. Will ich die Tat wirklich gedanklich nachvollziehen? Warum muss ich den Täter verstehen?
  2. Wenn sich Kriminalisten von Berufswegen damit beschäftigen, warum müssen das dann auch Hausfrauen, Schüler und Pensionäre in Deutschland?
  3. Was sind die wahren Motive der Tat? Und was möchte der Täter, was wir für die Motive halten?

Soweit die Anmoderation des folgenden Beitrages in den Tagesthemen (25.07.2011, 22:15 Uhr). Wie gesagt, ich war misstrauisch. Was dann aber folgte, war einfach nur unglaublich. Es werden die angeblich wichtigsten Passagen des Manifestes vorgetragen und zur besseren Verständlichkeit auch noch schriftlich eingeblendet. Propaganda pur. Aufruf zu weiteren Taten. Werbung für Anders Behring Breivik und seine Mission Europa zu retten. Keine Spur von Motiven zur Tat oder Erklärungsversuche. Nein, es ist eine Aufmunterung zur Nachahmung:

  • Die Zeit des bewaffneten Widerstandes ist gekommen.
  • Wenn du zum Schlag bereit bist, ist es besser, zu viele als zu wenige zu töten.
  • Nie zuvor hatte ich das Gefühl, etwas so bedeutsames zu tun.

Und sowas sendet die ARD in den Tagesthemen. Ich hoffe, sie wissen, was sie tun. Gute Nacht!

 

Update (28.07.2011)

Was haben die vermeintlichen Qualitätsmedien aus der Katastrophe von Winnenden gelernt? Die Berichterstattung über den Massenmord in Norwegen zeigt: fast gar nichts. W&V-Chefredakteur Jochen Kalka über ein wiederholtes Versagen.

Norwegen und das Medien-Massaker: „Ein Täter darf nicht abgebildet werden“

Ein Täter darf nicht abgebildet werden, er darf keine große Rolle in der Berichterstattung spielen, sonst lockt das Nachahmer an. Das sagen die Psychologen, etwa Bruno-Ludwig Hemmert, der Leiter des Kriseninterventionsteams in Erfurt und in Winnenden gewesen war. Focus Online zeigt den Massenmörder schön groß und thematisiert auch noch, dass er ein Vorbild hatte, einen amerikanischen Terroristen. „Focus“, „Spiegel“ und Co machen den Täter zum Helden. Wieder einmal. Und zum Vorbild für Loser. Wieder einmal. Warum aber lernen diese wichtigen Leitmedien nichts dazu?
http://wuv.de/norwegen

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