Feuer - Chaim NollIn Chaim Nolls neuestem Roman ist „Feuer“ mehr als ein Titel, es ist mehrschichtige Metapher. Feuer, das ist Erkenntnis und Liebe, spendet Wärme und macht uns erst zum Menschen. Ich denke dabei an das Bild vom brennenden Dornbusch, aus dem heraus Moses seine Erkenntnis gewinnt, sein Volk von der Unterdrückung durch die Ägypter zu befreien und durch die Wüste ins gelobte Land zu führen. Oder an das Bild für den Heiligen Geist, der in Feuerzungen über die Apostel kommt und ihnen die Augen öffnet. Ihnen gleichzeitig den Mut gibt hinauszugehen in die Welt und diese Wahrheit zu verkünden. Mit der Zähmung des Feuers begann auch die Menschwerdung. Unsere Kultur wurde vom Feuer geprägt und ermöglicht. Die Menschen wärmten sich an ihm, versammelten sich darum und erzählten Geschichten. Fleisch wurde gebraten, Geschirr desinfiziert, Metalle geschmiedet, im Feuerschein und mit Asche die ersten Gemälde gezeichnet. Alle menschlichen Kulturleistungen hatten hier ihren Ursprung.

Ob eines dieser Feuer titelgebend war, weiß nur der Autor selbst. In den meisten Buchbesprechungen und Inhaltsangaben des Romans wird aber ein anderes Feuer in den Mittelpunkt gestellt. Eine Katastrophe, eine explodierte Chemiefabrik, ein atomarer Super-Gau, was genau passiert ist überlässt Noll der Fantasie seiner Leser. Die Stadt brennt und die Menschen fliehen. Doch dieses zerstörerische Feuer zeigt uns der Autor nicht. Das Feuer, das er beschreibt, ist meist ein Lagerfeuer um das herum sich die zufällig zusammengewürfelte Gruppe versammelt, Mahl hält, sich vorstellt und über die Geschehnisse spekuliert. Oder im übertragenen Sinn das Feuer der Liebe und der Wahrheit, das sich nicht unterdrücken lässt.

So ist „Feuer“ nicht nur ein apokalyptischer Roman, sondern auch eine feinfühlige Liebesromanze. Alle Figuren stehen in ihrer Verschiedenheit für eine bestimmte Gruppe unserer Gesellschaft und jeder kann sich in der ein oder anderen wiederfinden. Das Mädchen in Grün, der Polizei-Offizier, der Bischof, der mit der schwarzen Lederjacke, der Gymnasiast, die Rothaarige, der Professor mit seiner Frau, der Staatssekretär, der Penner, die Ärztin. Der erste Teil der Erzählung spielt im Wald, auf der Flucht. Die Gesetze der heilen Welt sind aufgehoben, die Menschen verwahrlosen, die tierischen Triebe brechen durch. Verbrecher treten auf, Gier und Eifersucht herrschen, schließlich wird die Zweck-Gemeinschaft mit einem kaltblütigen Mord konfrontiert. Als endlich die vermeintliche Rettung kommt und die Gruppe die zivilisierte Welt erreicht, geschieht etwas völlig Unerwartetes. Die Spannung steigert sich bis zum Ende, das offen bleibt.

Ohne zu viel des Inhaltes zu verraten, dreht sich der zweite Teil um die existenzielle Frage: Was ist Wahrheit? Auf diese Weise und ganz nebenbei kritisiert Noll unsere heutige Mediengesellschaft messerscharf. Nimmt dabei auch Bezug auf unsere spezifisch deutsche Geschichte. Da scheinen zwischen den Zeilen immer wieder die Reichspogromnacht, die Konzentrationslager und die Stasi-Diktatur durch. Das wahrhaftige Erinnern und die Manipulierbarkeit unserer Wahrnehmung werden thematisiert. So lese ich den Roman von Chaim Noll stark autobiografisch. Er hat all diese geschichtlichen Ereignisse an der eigenen Haut gespürt und wurde im übertragenen Sinn gezwungen sein Heimatland Deutschland zu verlassen und nach Israel auszuwandern. Dort ist er endlich frei, um die Wahrheit auszusprechen und dieses wunderbare Buch zu schreiben.

CHAIM NOLL: Feuer. Roman. Verbrecher Verlag, Berlin 2010. 377 Seiten, 24 Euro.
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Besprechung in der Süddeutschen Zeitung vom 15. Februar 2011
» Motel der Angst von Cornelia Fiedler

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